Tinkturen gehören zu den effektivsten und haltbarsten Formen, Pflanzen medizinisch zu nutzen. Aber wie stellt man sie richtig her? Welche Alkoholstärke ist für welche Pflanze sinnvoll? Und was hat es mit der Folk-Methode und der Berechnungsmethode auf sich? In diesem Artikel bekommst du einen fundierten, praxisnahen Überblick – mit der Erfahrung aus 12 Jahren Pflanzenlabor.
1. Was ist eine Tinktur?
Eine Tinktur ist ein alkoholischer Auszug aus Pflanzenteilen. Der Alkohol dient dabei als Lösungsmittel, um bestimmte Inhaltsstoffe, z. B. Bitterstoffe, ätherische Öle oder Gerbstoffe, aus dem Pflanzenmaterial herauszulösen. Gleichzeitig wirkt er konservierend: Tinkturen halten meist mehrere Jahre.
2. Folk-Methode vs. Berechnungsmethode
Es gibt zwei bewährte Methoden, um eine Tinktur herzustellen:
Folk-Methode (einfache Methode)
Diese Methode ist intuitiv und einfach. Sie eignet sich hervorragend für den Hausgebrauch und wenn du gerade mit den Kräutern beginnst:
- Getrocknete Pflanzen: Glas zu ca. ⅔ mit Pflanzenteilen füllen, mit Alkohol (mind. 40 %) bis zum Rand auffüllen.
- Frische Pflanzen: Glas zur Hälfte füllen, mit Alkohol (40%, besser: 70%) auffüllen.
- Verschließen, schütteln, 4–6 Wochen ziehen lassen.
Vorteil: schnell, unkompliziert, alltagstauglich.
Nachteil: keine exakte Dosierungsmöglichkeit, ungenaue Wirkstoffkonzentration.

Berechnungsmethode (Gewichtsverfahren)
Ideal, wenn du eine reproduzierbare, exakt dosierbare Tinktur möchtest. Jede Tinktur wird in einem Verhältnis hergestellt, z.B. 1:4. Das bedeutet dass auf 1 Teil Pflanzenmaterial 4 Teile Alkohol kommen.
- Pflanzenmaterial wiegen und zerkleinern
- Alkoholstärke nach Pflanzenart wählen (siehe Abschnitt 3)
- Alkoholmenge exakt abmessen (z. B. 1:10 Auszug = 10 g Pflanze auf 100 ml Alkohol)
- Verschließen, 4–6 Wochen mazerieren
Vorteil: reproduzierbar, dokumentierbar, professionell
Nachteil: aufwändiger, berechnungen nötig
3. Welche Alkoholstärke für welche Pflanzen?
Nicht jeder Pflanzenstoff ist in Alkohol gleich gut löslich. Die Wahl der Alkoholstärke entscheidet über die Qualität deiner Tinktur. Hier findest du eine Übersicht:
40–50 % Alkohol (Vol.)
- Standardbereich für die meisten Tinkturen
- Für getrocknete Pflanzenteile und wenig saftige Frischpflanzen
- Extrahiert: Bitterstoffe, Flavonoide, Gerbstoffe, Glykoside
- Beispiele: Schafgarbe, Enzian, Johanniskraut
60–70 % Alkohol (Vol.)
- Für saftige Frischpflanzen und aromatische Wurzeln
- Extrahiert auch flüchtige Aromastoffe besser
- Beispiele: Melisse (frisch!), Baldrianwurzel, Beeren, Angelikawurzel
85–95 % Alkohol (Vol.)
- Nur für Harze, latexartige Stoffe, ätherische Öle in hoher Konzentration
- Achtung: zu stark für Frischpflanzen – entzieht Wasser zu schnell
- Beispiele: Propolis, Myrrhe, Weihrauch, Milky Oats
Das alles ist dir zu kompliziert?🤯 Du willst es von mir persönlich erklärt bekommen? Kein Problem!
Dann ist mein Workshop vielleicht etwas für dich:
4. Welche Stoffe sind in Alkohol gar nicht löslich?
Nicht alle Pflanzeninhaltsstoffe lassen sich mit Alkohol extrahieren. Besonders folgende Substanzgruppen bleiben außen vor:
- Schleimstoffe: z. B. in Eibisch, Malve, Leinsamen → lieber wässriger Kaltauszug
- Polysaccharide: immunmodulierende Stoffe in Pilzen (z. B. Reishi, Shiitake) besser als Abkochung
- Mineralstoffe und Spurenelemente: Alkohol zieht keine anorganischen Stoffe
- Eiweiße / Enzyme: werden durch Alkohol denaturiert
Wenn du auf genau diese Stoffe abzielst, ist ein Tee, Kaltauszug oder Dekokt sinnvoller. Für verbesserte Haltbarkeit kann auch ein Sirup gut sein.
5. Übersichtstabelle: Löslichkeit nach Alkoholstärke
| Löslich in … | Beispiel-Inhaltsstoffe | Typische Pflanzen | Hinweise |
|---|---|---|---|
| 40–50 % Alkohol | Bitterstoffe, Flavonoide, Alkaloide, Glykoside, Gerbstoffe | Baldrian, Schafgarbe, Johanniskraut, Weißdorn, Enzian, Hopfen | Standard für getrocknete Pflanzen Auch geeignet für frische, aber nicht sehr saftige Pflanzen. Gut zur Extraktion wasserlöslicher Stoffe |
| 70 % Alkohol | Aromastoffe, ätherische Öle | Melisse (frisch!), Angelikawurzel, Thymian, Salbei, Oregano | Ideal für frische, saftige Pflanzen wie Zitronenmelisse, Beeren oder aromatische Wurzeln. Holt mehr flüchtige Aromastoffe heraus. Zieht auch Pflanzensäfte besser |
| 95 % Alkohol | Harze, Gummi, Balsame | Myrrhe, Propolis, Guggul, Weihrauch, Fichtenharz | Nur für spezielle Anwendungen. Löst ätherische Öle und unpolare Bestandteile, die schwer löslich sind |
| Nicht löslich in Alkohol | Schleimstoffe, Polysaccharide, Mineralien | Malve, Eibisch, Pilze | Kaltauszug oder Tee besser |
Zusätzliche Tipps für die Praxis
- Verwende 40–50 % Alkohol für klassische Tinkturen mit getrocknetem Pflanzenmaterial – das ist in der Praxis am sichersten und am stabilsten.
- Für Pflanzen mit viel Feuchtigkeit (wie frische Zitronenmelisse oder Ingwer) funktioniert 70 % besser – es verhindert Schimmelbildung und zieht mehr Wirkstoffe. Du musst bedenken, dass ein hoher Wassergehalt in den Pflanzen die Alkoholstärke herabsenkt. Unter 25% Vol. kann dein Ansatz im schlimmsten Fall zu gären anfangen.
- 95 % Alkohol ist fast wasserfrei und deshalb nur für spezielle Zwecke geeignet, z. B. bei Myrrhe, Propolis oder Drachenblut.
- Schleimstoffe und ölige Samen sind NICHT geeignet für alkoholische Tinkturen. Sie lassen sich besser mit Wasser (bei Schleimen) oder Öl (bei fetten Samen) extrahieren.
- Harze brauchen sehr hochprozentigen Alkohol – ansonsten lösen sie sich nicht vollständig.
- Bitterstoffe und Flavonoide gehen gut in mittelprozentigen Alkohol über.
6. Zerkleinerung und Ziehzeit
Je zerkleinerter das Pflanzenmaterial, desto mehr Angriffsfläche hat der Alkohol. Deshalb solltest du die Pflanzenteile auf jeden Fall zerkleinern:
- Wurzeln, Rinden, Beeren: möglichst fein schneiden oder im Mörser zerstoßen
- Blätter, Blüten: mit dem Messer fein schneiden, nicht matschen (sonst verstopft der Kaffeefilter beim Abseihen)
- getrocknete Pflanzenteile: im Mörser grob anstoßen, auf keinen Fall pulverisieren (Verstopfungsgefahr beim Abseihen)
Ziehzeit: ca. 4 Wochen an einem dunklen Ort, gelegentlich schütteln. Manche Wurzeln oder Harze profitieren auch von längeren Auszügen (6–8 Wochen). Zarte Blüten oder Blätter können auch schon nach 2 Wochen ausgezogen sein. Am besten, du schaust, ob die Pflanzenteile ihre Farbe und Geschmack an den Alkohol abgegeben haben. Wenn die Blätter oder Blüten gräulich aussehen und der Alkohol die Farbe angenommen hat, oder der Alkohol den Pflanzentypischen Geschmack angenommen hat, dann kannst du abseihen.
Abseihen klappt am besten mit einem extra für Kräuter reservierten Kaffeefilter und einer Papierfiltertüte. (bitte nicht den vom Kaffee nehmen, sonst schmeckt dein Kaffee nach Kräuter und die Kräuter nach Kaffee)
Nach dem Abseihen am besten in Braunglasflaschen füllen und beschriften (Name, Pflanze, Alkoholstärke, Datum).
7. Frisch oder getrocknet? Was ist besser?
Frischpflanzen:
- Enthalten viel Wasser → verdünnen den Alkohol, (grobe) Berechnung des End-Alkoholgehalts nötig.
- Duften oft intensiver, energetisch „lebendiger“
- Brauchen höheren Alkoholgehalt (mind. 70 %)
Getrocknete Pflanzen:
- Konzentriertere Tinkturen möglich
- Geringer Wasseranteil in den Pflanzen → keine Berechnung des Wassergehaltes nötig.
- Ideal für Anfänger
Merke: Wenn du frisch verarbeitest, achte unbedingt darauf, dass der Alkoholgehalt hoch genug ist, um Schimmelbildung zu verhindern.
8. Sicherheit & Kontraindikationen
Alkoholische Tinkturen sind nicht für jede Person geeignet. Beachte folgende Einschränkungen:
- Kinder
- Schwangere & Stillende
- Alkoholunverträglichkeit: Keine Einnahme möglich, ggf. alkoholfreie Varianten
- Lebererkrankungen: Tinkturen nur nach Rücksprache mit ärztlichem Fachpersonal
Tinkturen sind mehr als „Schnaps mit Kraut“
Nicht jede Pflanze ist für eine Tinktur geeignet – und nicht jeder Inhaltsstoff lässt sich gleich gut extrahieren. Wer gezielt arbeiten will, muss wissen, welcher Wirkstoff im Fokus steht – und entsprechend die Alkoholstärke wählen.
Wenn du wissen willst, wie du deine Tinkturen zu einer wirkungsvollen Formulierung mischen kannst, dann lies hier weiter: So kombinierst du Heilkräuter sinnvoll
